Eine Familie vor Gericht

Flüche, Handgemenge und obszöne Gesten: In einem Dorf bei Marsberg spielte sich vor 300 Jahren ein unerhörtes Familiendrama ab. Es war beileibe kein Einzelfall, wie der Blick in westfälische Gerichtsakten zeigt.

Der Bauer Johann Friedrich Humpert aus Borntosten, einem Dorf bei Marsberg, geriet anno 1718 unter bösen Verdacht. Er habe seine hochschwangere Ehefrau „braun und schwarz“ geschlagen. Die Frau konnte sich offenbar vor den Schlägen ihres Mannes retten du floh in den Nachbarort Giershagen zu ihrer Mutter. Sie war es dann, die wenig später ihren brutalen Schwiegersohn anklagte.

Die Ortschaften Borntosten und Giershagen gehören zur kleinen unabhängigen Herrschaft Canstein. In dessen Beritt gab es sogar ein eigenes Patrimonialgericht, dem die adligen Herren zu Canstein vorsaßen. Vor diesem Gericht ergriff die Mütter der schwangeren Frau das Wort und klagte deren Mann bzw. ihren Schwiegersohn der Gewalt in der Ehe an.

Humpert wurde ebenfalls befragt Er habe, so erzählt er, am Sonntag ins Wirtshaus gehen wollen, doch seine Frau habe ihm das Geld verweigert. Daraufhin habe er sie verprügelt. Humpert wörtlich: „Dafür hätte der Pfaffe sie ihm gegeben, dass er sie strafen müsste.“

Mehr als eine Episode

Diese bezeichnende Episode hat die Historikerin Barbara Krug-Richter in den Akten des alten Gerichtes zu Canstein ausgegraben. Rangeleien, „Rauf- und Ehrenhändel“, Beleidigungsprozesse: All das ist in den Protokollen und Zeugenaussagen in erstaunlich großer Zahl dokumentiert. Dörflicher Frieden herrschte offenbar nur an wenigen Tagen. Allein für das Jahr 1718 wurden in den fünf kleinen Dörfern der Herrschaft Canstein, also in den Ortschaften Borntosten, Canstein, Heddinghausen, Leitmar und Udorf, 343 Fälle aktenkundig, darunter 54 handfeste Schlägereien, die vor allem die Männer des Dorfes austrugen.

Viele der dokumentierten Fälle drehten sich um Streitigkeiten und Auseinandersetzungen zwischen Nachbarn, unter Knechten und Tagelöhnern, oder auch zwischen Schäfern und Bauern, die das „wilde Grasen“ der Schafherde nicht dulden wollten. Eine Reihe von fällen aber drehte sich um innerfamiliäre Konflikte. Der „Tatort Dorf“ war eben oft auch ein „Tatort Familie“, wie der Blick auf die damalige Hofstätte Humpert beispielhaft für viele andere zeigt.

Der Vollspänner Johann Friedrich Humpert lebte auf dem Hof in Borntosten mit seiner hochschwangeren Frau. Im Haushalt lebten außerdem seine Mutter, sein Bruder und dessen Frau.

Der Familienkonflikt entzündete sich an einem Speicher auf dem Hof. Die alte Bäuerein wollte dort selbst einziehen bzw. ihn für eine andere Tochter und deren Mann freihalte. Der junge Bauer und seine schwangere Frau hingegen beabsichtigten – vermutlich aus finanziellen Gründen -, den Speicher zu vermieten. Die Mieter standen bereits fest: ein Tagelöhner aus einem benachbarten Ort und eine junge Frau aus Borntosten. Am Tag ihrer Heirat wollten sie einziehen – doch es kam anders. Denn ausgerechnet an diesem Tag kam es zum handfesten Streit in der Familie auf dem Hof.

Galliger Fluch, derbe Geste

Die junge Schwiegertochter, so klagte die Altenteiler-Bäuerin, habe sie „als einen rotterigen Hund ausgeschlten“. Und mehr noch: Es sei zu einem Handgemenge zwischen den beiden gekommen. Die junge Frau habe sie „von sich gestoßen, dass sie rückwärts hinter den Braupott gefallen (ist) und bei solchen Umständen ein Loch auf der Hand bekommen (hat).

Das Gericht erfuhr von der Schwiegertochter weitere Abgründe des Streits. Die alte Bäuerin habe ihr gegenüber „hässliche Worte ausgesprochen“, erklärte die Schwiegertochter. Und mehr noch: Die Mutter habe „endlich aber auch gar den Rock und (das) Hemd hoch aufgehoben und sich tief bückend den bloßen Hintern ihr vorgestellt und dabei allerlei Flüche ausgeschüttet, vor allem dass sie nimmer erlöset werden oder einen Hund zur Welt tragen möge“.

Dieser gallige Fluch der alten Frau bezog sich auf die Schwangerschaft der jungen Frau. Die wiederum reagierte auf die obszöne, entehrende Geste des entblößten Hinterteils mit Gewalt. Sie stieß die Mutter, wie oben beschrieben, hinter den Braukessel.

Stehen am Pfahl“

Das Patrimonialgericht zu Canstein verurteilte die junge Frau zur Zahlung einer Geldstrafe von zwei Mark. Die Schwiegermutter indes traf es besonders hart: Sie wurde zum „Stehen am Pfahl“ verdonnert. Zwei Mal wurde sie für jeweils sechs Stunden an den Pranger des Dorfes gebunden und dem Gerede und Gespött der anderen Dorfbewohner preisgegeben. Sie dürften dabei auch von den ehrverletzenden Sprüchen und Gesten erfahren haben.

Doch damit war die Gewalt auf dem Hof, in der Familie keineswegs beendet. Der Sohn Johann Friedrich Humpert griff wenig später zu einem Leuchter und schlug auf seine Mutter ein, die bereits im Bett lag. Diese Tat wiederum riefen den Bruder und einen Schwager Humperts auf den Plan, die nun ihrerseits den Bauern verprügelten. Später gaben sie zu verstehen, „dass ein Kind die Mutter nicht schlagen dürfte“ und sie ihn deswegen bestraft hätten.

Doch nun war es die betagte Mutter, die ihren Sohn in Schutz nahm – wenn auch auf recht eigenwillige Art und Weise: „Er wäre zu ihr ans Bett getreten und habe sie an den Kopf geschlagen: Sie hätte aber solchen Schlag nicht empfunden, er (der Sohn) wäre ganz trunken gewesen.“ Zwischen all diesen Streitereien fällt auch noch eingangs geschilderter Ehestreit und die Gewalt des jungen Bauern an seiner schwangeren Frau!

Gisbert Strotdrees

Im Frieden des Dorfes?

Auf heutige Leser mag der geschilderte Fall wirken, als habe es sich um eine besonders rauflustige Familie gehandelt, um einen Einzelfall, der aus dem Frieden des Dorfes herausstach. Doch diesen Frieden gab es damals so nicht. Und ein Einzelfall war es auch nicht, wie die Historikerin Barbara Krug-Richter mit blick auf die Dörfer der Herrschaft Canstein zusammenfasst:

„Konfliktträchtige Familienkonstellationen, in denen es zu permanenten Schmähreden und auch physischer Gewaltanwendung kam, sind in den Protokollen häufig überliefert und beschränkten sich keineswegs auf die Haushalte der klein- und unterbäuerlichen Schichten.“ Vor allem die gemeinsame Haushaltsführung von Alt und Jung habe die Konflikte oft verschärft, wenn nicht gar ausgelöst. „Die aus heutiger Perspektive oft kleinliche Aufrechnung kleinster Menge an Brot und Korn, Butter und Köse erklärt sich nicht zuletzt aus unsicheren ökonomischen Verhältnissen, führte allerdings oft auch zu unüberwindlichen Feindseligkeiten.“

Wochenblatt 47/2012 Seite 111